„Mögliche Olympische und Paralympische Spiele 2036 in Deutschland hätten in vielerlei Hinsicht eine enorme Tragweite.“

Alon Meyer ist Präsident des jüdischen Dachsportverbands MAKKABI Deutschland und Gast in unserem Fachtalk zum Thema 1936-1972-2036? Wir haben mit ihm unter anderem darüber gesprochen, wie sowohl er als auch die jüdische Gemeinde über eine mögliche Austragung Olympischer und Paralympischer Spiele 2036 in Deutschland denken.

Alon Meyer: Präsident von Makkabi Deutschland.
Alon Meyer: Präsident von Makkabi Deutschland.

Hallo Herr Meyer. Sie sind Präsident von MAKKABI Deutschland e. V. Wie lautet Ihre Einschätzung zu der Frage: Olympische und Paralympischen Spiele 2036 in Deutschland: Chance oder Risiko?

Als Präsident des jüdischen Dachsportverbands MAKKABI Deutschland weiß ich um die verbindende Kraft des Sports und wage mich stets, positiv in die Zukunft zu schauen. Es war kein Zufall, dass wir 2015 auf dem von den Nazis erbauten Berliner Olympiagelände mit den European Maccabi Games die erste internationale jüdische Sportgroßveranstaltung auf deutschem Boden seit 1945 ausgerichtet haben, die gleichzeitig auch das größte jüdische Sportevent in ganz Europa seit der Shoah waren. Damit hat die jüdische Sport-Gemeinschaft ein Zeichen der Selbstverständlichkeit jüdischen Lebens in Deutschland gesetzt. Daher verstehe ich eine mögliche Olympiabewerbung zunächst einmal als große Chance. Gleichzeitig umtreiben mich aber auch einige Sorgen wie zum Beispiel, dass der organisierte Sport in Deutschland seine eigene NS-Vergangenheit bislang unzureichend aufgearbeitet hat. Hier besteht also Nachholbedarf, ohne den eine glaubwürdige Wertevermittlung aus meiner Sicht kaum möglich sein kann.

Keine Zukunft ohne Vergangenheit. Daher die Frage: Wo stehen wir heute mit der Aufarbeitung der Olympischen Spiele von 1936 und 1972?

Für uns bei MAKKABI Deutschland spielt die Aufarbeitung von 1936, 1972 und vielen weiteren Erinnerungsanlässen und die damit verbundene Bildungs- und Präventionsarbeit eine immens wichtige Rolle. Aus den Kontexten unserer Bildungsprogramme schätze ich die Aufarbeitungsmechanismen im deutschen Sport als Graswurzelbewegung ein: Wir haben etlichen Historiker*innen, Aktivist*innen oder auch Fangruppen für ihre wegweisenden Beiträge und Initiativen an der Basis zu danken. Auf der anderen Seite würde ich die Aufarbeitungsmechanismen im deutschen Sport und insbesondere beim DOSB noch als ausbaufähig einordnen. Über eine Olympiabewerbung kann nur nachgedacht werden, wenn eine intensive und glaubhafte Aufarbeitung der eigenen Geschichte als Nationales Olympisches Komitee nach objektiven und wissenschaftlichen Standards endlich erfolgt und dadurch Sensibilisierungsmaßnahmen im und durch den Sport überhaupt erst greifen können.

Wie sehr ist Antisemitismus noch heute ein Teil der deutschen Gesellschaft?

Es ist ein weit verbreiteter Irrglaube, dass antisemitische Einstellungsmuster in der deutschen Gesellschaft seit 1945 auf einmal abgenommen hätten oder je weg gewesen wären. Antisemitismus ist ein sehr wandelbares Phänomen und dabei reden wir nicht nur von offen judenfeindlichen Handlungen oder latenten, ja oftmals sogar unbeabsichtigten, Vorurteilen, die sich über Jahrhunderte hinweg in der Gesellschaft fest verankert haben. Antisemitismus funktioniert nicht nur als Diskriminierung, sondern als Welterklärungsmodell, bei dem Jüdinnen und Juden für komplexe, globale Problematiken verantwortlich gemacht werden. Um das Ausmaß von Antisemitismus gegen Mitglieder jüdischer Sportvereine zu erfassen, hat unser Bildungsprojekt „Zusammen1“ von MAKKABI Deutschland eine Studie durchgeführt und herausgefunden, dass 39 Prozent unserer Mitglieder, egal ob jüdisch oder nicht-jüdisch, schon mindestens einmal von einem antisemitischen Vorfall persönlich betroffen waren. Im Fußball sind es sogar 68 Prozent. Ein erschreckendes Ausmaß, das viele Personen überrascht, denen wir davon erzählen.

Wie bewertet die jüdische Gemeinde – in Deutschland und international – vor diesem Hintergrund eine mögliche Bewerbung um die Spiele 2036?

Sie müssen wissen, dass die jüdische Community sehr diskussionsfreudig ist. Ich könnte auf der Stelle zehn sportbegeisterte Jüdinnen und Juden an einen Tisch bekommen mit dem Ergebnis, dass wir auf einmal zwölf verschiedene Meinungen haben. Ich nehme in meinem Umfeld aktuell wahr, dass viele gerade erst beginnen, sich intensiv und kritisch mit dem Thema auseinanderzusetzen und ich finde auch, dass man der jüdischen Gemeinde in Deutschland sowie auch international sehr wohl ausreichend Zeit zugestehen muss, um sich hierzu positionieren zu können. Mögliche Olympische und Paralympische Spiele 2036 in Deutschland, ausgerechnet 100 Jahre nach Hitlers Propaganda-Spielen, hätten in vielerlei Hinsicht eine enorme Tragweite: Von der Auseinandersetzung mit den familiären Traumata der Shoah, über die Aufarbeitung deutscher Gewaltgeschichten bis hin zu einer enormen medialen Präsenz, deren Vor- und Nachteile man genau abwägen muss. Als Präsident von MAKKABI Deutschland und Sprachrohr der jüdischen Sport-Gemeinschaft möchte ich jedoch mutig und selbstbewusst genug sein, um die Chancen einer möglichen Olympiabewerbung zu ergreifen und durch notwendige, wenn auch schmerzhafte Aufarbeitungsprozesse im Sport ein Leuchtturm für die ganze Gesellschaft zu werden.

Unabhängig von einer Bewerbung sollte sich Deutschland 100 Jahre nach den Propaganda-Spielen mit diesem dunklen Teil seiner Geschichte auseinandersetzen. Wie kann diese Aufklärungs- und Erinnerungsarbeit aus Ihrer Sicht gelingen?

Es ist aus meiner Sicht unerlässlich, dass die übergeordneten Vereins- und Verbandsstrukturen die starke erinnerungskulturelle Arbeit an der Basis aufgreift, ihr Sichtbarkeit verschafft und all die wertvollen Beiträge und Initiativen in eine starke Erinnerungspraktik überführt. Wir müssen allen Personen in unserer Gesellschaft aufzeigen, was die Vergangenheit konkret mit ihnen selbst zu tun hat und jederzeit die Gegenwart und Zukunft als wichtige Kategorien mitdenken. Nur durch persönliche Bezüge, zum Beispiel über den eigenen Sportverein, kann die Bedeutung des Erinnerns in einen Zusammenhang mit dem eigenen Werteverständnis gebracht werden. Eine große Herausforderung ist dabei stets, aktuelle geopolitische Ereignisse zu berücksichtigen. Wir leben in einer post-nationalsozialistischen und post-kolonialen Gesellschaft. Umso wichtiger ist es, den Blick über Antisemitismus hinaus auf unsere koloniale Geschichte, Rassismus, Antiziganismus, Sexismus, Homofeindlichkeit, Ableismus und viele weitere Gewaltgeschichten auszuweiten.