„Die Spiele passen sich dem Gastgeber an, und nicht der Gastgeber den Spielen.“
Welche Auswirkungen haben die Reformprozesse des IOC auf die mögliche Ausrichtung Olympischer und Paralympischer Spiele? Was haben die Reformen bereits bewirkt? Das und mehr haben wir Jacqueline Barrett, Direktorin der Future Olympic Games Hosts beim IOC, gefragt.
Frau Barrett, das IOC hat mit der Agenda 2020+5 den eingeschlagenen Reformprozess der Agenda 2020 fortgesetzt. Was sind die Ziele der Agenda 2020+5?
Die Olympische Agenda 2020+5 stellt den strategischen Fahrplan der Olympischen Bewegung bis zum Jahr 2025 dar. Aufbauend auf den Erfolgen der Olympischen Agenda 2020 konzentriert sich die Agenda auf fünf Themen, die von uns und unseren Stakeholdern als Schlüsselthemen identifiziert wurden, um durch Sport zu einer besseren Welt beizutragen und zugleich dem Sport eine stabile und vielversprechende Zukunft zu sichern. Diese übergeordneten Themen sind Solidarität, Digitalisierung, nachhaltige Entwicklung, Glaubwürdigkeit und wirtschaftliche wie auch finanzielle Widerstandsfähigkeit.
Unser Ziel ist es, die Olympische Bewegung zu befähigen, Solidarität zwischen Menschen und Organisationen im Sport zu stärken, das Potential der Digitalisierung auszuschöpfen, um den Sport und die Olympischen Werte zu bewerben, und unsere Stakeholder dabei zu unterstützen, die nachhaltigen Entwicklungsziele (SDGs) der Vereinten Nationen zu erreichen.
Ein Schwerpunkt liegt dabei darin, Glaubwürdigkeit, gute Verbandsführung und wirtschaftliche Widerstandsfähigkeit zu gewährleisten. Das ist besonders wichtig vor dem Hintergrund, dass 90 Prozent der Einnahmen des Internationalen Olympischen Komitees in den Sport und die Athlet*innenentwicklung auf der ganzen Welt weitergegeben werden – das entspricht täglich 4,2 Millionen US-Dollar.
Wie hat die Umsetzung der Agenda 2020+5 die strategische Ausrichtung des IOC verändert und welche konkreten Maßnahmen wurden bereits ergriffen, um diese Ziele zu erreichen?
Mit Blick auf die Ausrichtung der Olympischen Spiele ermutigen wir als direkte Folge der Olympischen Agenda 2020+5 alle potenziellen Gastgeber, ihre Olympischen Projekte als Katalysatoren für die Erreichung der nachhaltigen Entwicklungsziele der Vereinten Nationen zu nutzen. Zu diesem Zweck haben wir den Ausrichtervertrag überarbeitet, um die Anforderungen in Bezug auf Nachhaltigkeit, einschließlich Klimaverpflichtungen, Menschenrechte und Geschlechtergleichstellung, zu stärken.
Ab 2030 werden die Organisationskomitees der Olympischen Spiele (OCOGs) vom IOC verpflichtet, direkte und indirekte Emissionen zu reduzieren, mehr als ihre verbleibenden Emissionen zu kompensieren und ihren Einfluss zu nutzen, um den Übergang der Ausrichterregion/des Ausrichterlandes zu einer CO2-armen Wirtschaft zu erleichtern.
Im Bereich Menschenrechte hat das IOC im September 2022 ein neues strategisches Rahmenwerk verabschiedet. Als Eigentümer der Olympischen Spiele sind wir bestrebt, sowohl bei der Auswahl der Gastgeber als auch bei der Organisation der Spiele durch die Zusammenarbeit mit den OCOGs – im Rahmen ihrer Zuständigkeiten – Best Practices im Bereich der Menschenrechte voranzutreiben. Dies geht einher mit klaren Anforderungen und unterstützenden Instrumenten und im Einklang mit allen international anerkannten Menschenrechtsstandards und -prinzipien, einschließlich der Leitprinzipien der Vereinten Nationen für Wirtschaft und Menschenrechte.
Ab 2030 müssen die Ausrichter zudem bei der Planung und Organisation der Spiele systematisch Überlegungen zur Gleichstellung der Geschlechter und zur Diversität gemäß den Leitlinien von UN Women berücksichtigen.
Dies sind Themen, die das IOC gegenüber allen Nationalen Olympischen Komitees, Städten und Regionen anspricht, die sich an uns wenden, um über die Ausrichtung der Spiele zu sprechen. Es ist uns sehr wichtig, dass sie von Anfang an mitgedacht und in ein Projekt integriert werden.
Auch bei der Organisation künftiger Spiele gab es einschneidende Änderungen. „The New Norm“ basiert auf sechs Empfehlungen der Agenda 2020. Wie können wir uns „The New Norm“ vorstellen?
Die Kernaussage besteht darin, dass sich die Spiele an den Ausrichter anpassen und nicht der Ausrichter an die Spiele.
Das IOC fördert nachhaltige und flexible Konzepte für die Spiele, die zu den langfristigen Entwicklungsplänen der Ausrichterregion und des Landes passen, die sicherstellen, dass nichts nur für die Spiele gebaut wird; die bestehende und temporäre Sportstätten bevorzugen und sich auf die Schaffung langfristiger Vorteile für die lokale Bevölkerung konzentrieren.
Wir haben die Mindestkapazitäten für die Sportstätten aufgehoben, und Ausrichter können aus Gründen der Nachhaltigkeit einzelne Events oder ganze Sportarten außerhalb der Hauptaustragungsregion und sogar außerhalb des Landes vorschlagen, wenn es vor Ort keine geeignete bestehende Sportstätte gibt. Wo Sportstätten vorhanden sind, kann aus Gründen der Nachhaltigkeit ein kompakteres Projekt von Vorteil sein. Darüber hinaus ermutigen wir die Ausrichter, die vorhandenen ÖPNV-Systeme zu nutzen und die bestehenden Sportstätten nach Möglichkeit für unterschiedliche Sportarten zu nutzen.
Insgesamt ist es jetzt einfacher, die Olympischen Spiele ausrichten zu wollen: Sie sind anpassungsfähiger, kosteneffizienter und flexibler und passen sich den Bedürfnissen der lokalen Bevölkerung an.
Obwohl Tokio 2020 bereits 2013 vor der Verabschiedung der Reformen zum Austragungsort der Olympischen Spiele gewählt wurde, nahmen das IOC und das Organisationskomitee nachträgliche Änderungen am Ausrichtungskonzept vor und ersetzten vorgeschlagene neu zu bauende Austragungsorte durch bestehende Standorte wie Enoshima für den Segelsport und Baji Koen für den Reitsport. Andere Sportarten wurden in temporäre Sportstätten verlegt. Beispielsweise wurden Fechten, Taekwondo und Ringen alle in der Makuhari Messe ausgetragen, einem bestehenden Veranstaltungsort, in dem die Sportstätten vorübergehend temporär errichtet wurden. So konnten dank der New Norm insgesamt Einsparungen in Höhe von 4,2 Milliarden US-Dollar erzielt werden.
In den letzten Jahren gab es eine Reihe weiterer Änderungen bezüglich des Prozesses zur Auswahl der Olympia-Ausrichter.
Dank sämtlicher dieser Reformen des IOC haben die zuletzt gewählten Ausrichter der Sommer- und Winterspiele während des Bewerbungsprozesses 80 Prozent weniger ausgegeben als frühere Kandidatenstädte.
Dank sämtlicher dieser Reformen des IOC haben die zuletzt gewählten Ausrichter der Sommer- und Winterspiele während des Bewerbungsprozesses 80 Prozent weniger ausgegeben als frühere Kandidatenstädte.
Und wir optimieren die Durchführung der Olympischen Spiele weiterhin: Das IOC hat eine neue „Games Optimisation Group“ mit Vertretern all unserer Stakeholder, einschließlich der zukünftigen Organisationskomitees, gegründet, die gemeinsam an Innovationen arbeiten, um die Spiele nachhaltiger, ressourceneffizienter und zukunftssicherer zu machen.
Was hat sich im Zuge dieser Reformen für die Gastgeberstädte/-regionen verändert?
Mit Blick auf die Ausrichtung der Olympischen Spiele können wir am starken weltweiten Interesse aus allen Kontinenten erkennen, dass die Olympische Agenda 2020 die Ausrichtung der Spiele modern, relevant und erstrebenswert gemacht hat.
Viele potenzielle Ausrichter haben uns mitgeteilt, dass sie als direkte Folge der Reformen an den Tisch kommen. Dies war insbesondere bei Brisbane 2032 der Fall, wo die Spiele nicht in einer einzigen Stadt, sondern in der gesamten Region Südost-Queensland mit weiteren dezentralen Austragungsorten stattfinden werden. Dadurch wird die Ausrichtung der Olympischen Spiele für viele kleinere Städte und Regionen ermöglicht, die zusammenarbeiten können, um Ressourcen zu teilen und so viele bestehende Austragungsorte wie möglich zu nutzen. Der neue, unverbindliche offene Dialog mit potenziellen Ausrichtern bedeutet, dass mehr Regionen bereit sind, ihre Vorschläge zur Organisation der Spiele mit uns zu diskutieren.
Lassen Sie uns zum Abschluss gemeinsam ins Jahr 2024 blicken. Da finden die Olympischen und Paralympischen Spiele in Paris statt. Sie werden auch „die Spiele einer neuen Ära“ genannt. Warum?
Paris 2024 wird aus zwei Hauptgründen als Blaupause für die Gestaltung zukünftiger Olympischer Spiele und anderer Großveranstaltungen dienen:
Erstens wird es einen noch nie da gewesenen öffentlichen Zugang zu diesen Spielen geben. Unter dem Motto „Games Wide Open“ bietet das Organisationskomitee der Bevölkerung die Möglichkeit, die Spiele nicht nur als Zuschauer*innen zu erleben, sondern auch an Breitensportveranstaltungen und anderen Beteiligungsformaten teilzunehmen. Berühmte Denkmäler werden in prächtige Wettkampfstätten verwandelt und die Eröffnungszeremonie wird auf der Seine stattfinden, wo Hunderttausende Menschen an der Feier teilnehmen können.
Zweitens sind Paris 2024 die ersten Spiele, die im Einklang mit den Reformen der Olympischen Agenda 2020 und dem Pariser Klimaabkommen geplant und organisiert werden. Der Bauaufwand wird minimal sein, da 95 Prozent der Sportstätten vorhanden oder temporär sind. Das Organisationskomitee strebt eine Reduzierung der CO2-Emissionen um 50 Prozent im Vergleich zum Durchschnitt von London 2012 und Rio 2016 an.
Darüber hinaus setzt sich Paris 2024 dafür ein, langfristige Vorteile für die lokale und nationale Bevölkerung zu gewährleisten und mehr Menschen mehr Sport zugänglich zu machen, in Schulen, am Arbeitsplatz und in den Städten. So hat sich das Organisationskomitee von Paris 2024 erfolgreich für eine tägliche 30-minütige Sportpause in französischen Grundschulen eingesetzt, eine Initiative, die landesweit 4,2 Millionen Schüler*innen erreichen soll.
Außerdem werden niedrigschwellig zugängliche soziale und wirtschaftliche Möglichkeiten geschaffen, die die Beschäftigung und das Unternehmertum vor Ort fördern.